Einfälle Nr. 170 | 2. Quartal 2024

Liebe Leserinnen, liebe Freundinnen und Fördererinnen*,

sicherlich ist das Leben ohne eine chronische Erkrankung oder Behinderung leichter als mit einer solchen. Sicher ist auch, dass eine chronische Erkrankung oder Behinderung die Betreffenden prägt – ohne diese Einschränkungen wären sie andere Menschen. Aber ist es nicht eine Binsenweisheit, dass Erfahrungen uns prägen? Jede kennt das: Es gibt Entscheidungen oder Ereignisse, die den weiteren Verlauf des Lebens beeinflussen, ihn vielleicht sogar entscheidend verändern. Das können bewusst getroffene Entscheidungen sein, über deren Tragweite wir uns (manchmal) im Klaren sind, wie zum Beispiel die Berufswahl oder die Entscheidung für eine Heirat – aber ob das die richtigen Entscheidungen waren, wissen wir oft erst im Nachhinein. Das können auch Entscheidungen sein, die zunächst harmlos wirken, aber unabsehbare Konsequenzen haben. Wer schon einmal in einen Unfall verwickelt war, kennt das: Warum habe ich an dem Tag nicht einen anderen Weg genommen? Was wäre, wenn ich nicht verschlafen hätte? Warum musste diese blöde Baustelle unbedingt heute da sein? Wer von denjenigen, die im Dezember 2004 ihren Weihnachtsurlaub in Thailand verbracht haben, hat schon vor Reiseantritt damit gerechnet, dort infolge des Tsunamis unermessliches Leiden zu erfahren und vielleicht sogar seine Liebsten zu verlieren?

Es kann als gesichert gelten, dass eine chronische Erkrankung den Verlauf unseres weiteren Lebens entscheidend verändert. Aber muss das Leben deshalb unbedingt schlechter sein? Ich weiß, wovon ich rede. Ohne meine chronische Erkrankung hätte ich sicherlich nie Soziologie studiert (oder vielleicht doch?), hätte ich wahrscheinlich heute einen anderen Arbeitsplatz und womöglich noch nie was von Epilepsie gehört. Wahrscheinlich hätten die einfälle dann auch einen anderen Chefredakteur, oder es würde sie gar nicht mehr geben – wer weiß das schon.

Klar – manchmal verfluche ich meine Erkrankung, fühle mich sehr eingeschränkt in meinen Möglichkeiten und abhängig von anderen Menschen, zum Beispiel von meinem Pflegedienst, ohne den ich morgens aufgeschmissen wäre. Überwiegen tun allerdings die anderen Tage. Tage, an denen ich voller Ideen und Unternehmungslust stecke; Tage, an denen es mir richtig gut geht und an denen ich glücklich bin; Tage, an denen ich meine Behinderung fast vergesse und mich sogar darüber lustig machen kann. (Neulich habe ich mir als Rollstuhlfahrer einen „Coffee to go“ gekauft und war sehr enttäuscht, dass das nicht funktioniert hat. Oder der Klassiker, wenn jemand reinkommt: Bleiben Sie bitte sitzen!).

Wie sagte Robert Louis Stevenson (1850 – 1894): „Im Leben kommt es nicht darauf an, ein gutes Blatt in der Hand zu haben, sondern mit schlechten Karten gut zu spielen.“ (Danke Google!) Oder ein etwas aktuelleres Zitat von Marion Clignet (ehemalige Radsportlerin mit Epilepsie): „Epilepsie ist keine Entschuldigung dafür, euch nicht aufzumachen, um eure Träume zu verwirklichen.“

Ja, Epilepsie ist eine sch… Krankheit! Ja, die Anfälle können ganz schön beeinträchtigend sein! Ja, keiner braucht so eine blöde Erkrankung! Alles richtig. Aber richtig ist auch, dass mit Epilepsie vieles möglich ist. Es gibt unzählige Möglichkeiten, die nur darauf warten, genutzt zu werden. Wir möchten mit den Beiträgen in diesem Heft zeigen, was mit Epilepsie alles möglich ist und unseren Leserinnen Mut machen, Dinge zu machen, die sie schon immer tun wollten, aber sich das noch nie getraut haben. Wir haben ganz bewusst darauf geachtet, keine „Superstars“ als leuchtende Vorbilder hinzustellen. Die Beiträge sind von „ganz normalen Menschen“ die „ein ganz normales Leben“ führen – Menschen wie Du und ich also.

Wer sich das alleine nicht traut, kann sich Hilfe und Unterstützung organisieren – auch wenn frau dabei manchmal über ihren Schatten springen muss. Auch dazu habe ich bei Google einen schönen Spruch gefunden: „Bär, was war das Mutigste, was Du jemals gesagt hast?“ fragte das Schweinchen. „Ich brauche Hilfe“, antwortete der Bär.

In diesem Sinne,

Euer/Ihr

Norbert van Kampen

*Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwende ich in diesem Editorial die weibliche Form (generisches femininum). Damit sind selbstverständlich auch die Männer und alle anderen gemeint, ich will niemanden diskriminieren.

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